"Bauchgenossen"

von Raymonde Harland erschienen in "katzen extra"9/97

Zu den anderen Artikeln

Ein Kater, der die Jungen mitversorgt und zu seinen Mitkatzen und Menschen stets liebevoll ist -Kätzinnen, die jedes Kater- und Menschenherz bezaubern und ihre normalgroßen Würfe liebevoll aufziehen - so wünschen wir uns unsere idealen Zuchttiere. Dazu sollen sie auf jeder Ausstellung freundlich zu Stewards und Richtern sein und zuhause im Mehrkatzenhaushalt keine Revieransprüche durch Duftmarken geltend machen.

Durch Selektion in der Zucht, das heißt Weiterzucht mit Tieren, die die gewünschten Charaktermerkmale aufweisen, versuchen Züchter auch diese Ziele zu erreichen. Doch auch in Linien, in denen sich die Tiere genetisch angeglichen haben, gibt es immer wieder Tiere, die aggressiver - auch gegen Welpen - sind, die wesentlich kleinere Würfe haben und Kätzinnen, an denen Kater nicht das rechte Interesse finden.

Eine mögliche Ursache dafür, so zeigen Studien aus den USA, kann der "Bauchgenosse" in der embryonalen Entwicklung sein.

Frederick vom Saal, ein junger Doktorand an der University of Texas in Austin wunderte sich 1976 über das Verhalten von Labormäusen. Obwohl alle vom gleichem Stamm abstammten, also genetisch fast 100%ig gleich ausgestattet waren (wie Klone), gab es auffällig abweichende Verhaltensweisen: genau eine von sechs weiblichen Mäusen verhielt sich aggressiv und revierbewusst. Genau dieses Weibchen wurde von den Männchen, wenn sie die Wahl hatten, verschmäht, sie wurde auch später geschlechtsreif und wurde seltener brünstig. Wurde sie doch trächtig, so waren die Würfe kleiner und enthielten mehr männlichen Nachwuchs. Ebenfalls eine von sechs Mäuseschwestern, war bei den Männchen besonders beliebt, bekam besonders große Würfe mit überwiegend weiblichem Nachwuchs. In den Ohren der anderen Biologen klang dies wie das Märchen von der "hübschen" und der "hässlichen" Schwester.

Auch bei den männlichen Mäusen gab es bei je einem von sechs Brüdern herausragende Eigenschaften: je einer von sechs war besonders liebevoll zu seinem Nachwuchs und versorgte ihn, war aber aggressiv zu anderen Männchen und legte Wert auf ein Revier, ebenfalls einer von sechs war sexuell aktiver, hatte auch nichts gegen einen männlichen Kumpel einzuwenden, dafür griff er den Nachwuchs an. Dies klang wie die Story vom "Playboy" und vom "braven Familienvater". So wundert es nicht, daß vom Saals Idee, die Ursachen dieses Phänomens zu erforschen, nur Kopfschütteln bei seinen Kollegen hervorrief.

Choco-Wurf the Fabulous, Maine Coon

 

Doch vom Saal ließ nicht locker, denn seine Beobachtungen widersprachen allem, was die wissenschaftliche Literatur jener Zeit behauptete. Danach war Aggression ein strikt männliches Verhalten, welches durch das Hormon Testosteron hervorgerufen wird. Man findet dies Hormon bei männlichen Lebewesen in weit höherer Konzentration, als bei weiblichen. Doch die "hässlichen Schwestern" verhielten sich eindeutig aggressiv. Sollte Testosteron im Spiel sein?. Doch die erwachsenen Tiere wiesen keinen abweichenden erhöhten Hormonspiegel auf. Trotzdem war vom Saal auf der richtigen Spur.

Jeder von uns hat in der Schule gelernt, dass Spermienzellen mit einem Y-Chromosom männliche Kinder erzeugen. Doch der Embryo scheint dies lange zu ignorieren. Die Anlagen für einen weiblichen Körper und für einen männlichen Körper sind lange Zeit nebeneinander vorhanden, als könne sich der Embryo nicht für ein Geschlecht entscheiden. Der Auftritt der Gene auf dem Y-Chromosom erfolgt erst relativ spät und ist nur kurz. Er bewirkt die Ausbildung von Hoden. Die ganze übrige Entwicklung zum männlichen Lebewesen wird nun von den Hormonsignalen der Hoden gesteuert. Ohne diese Hormonsignale würde sich kein männlicher Körper, kein männliches Verhalten ausbilden, sondern ein weiblich aussehendes und weiblich verhaltendes Wesen trotz Y-Chromosom.

Hormone sind, ähnlich wie homöopathische Mittel, in höchster Verdünnung wirksam. Sie wirken noch in der Verdünnung von eins zu 1 Billion. Man kann versuchen, sich ein Bild von so kleinen Mengen wie "ein Teil pro Billion" zu machen, indem man sich einen Gin Tonic vorstellt, bei dem ein Tropfen Gin auf einen Tankwagen voll Tonic- Wasser käme. Dieser eine Tropfen auf 660 solcher Tankwagen verteilt entspräche einem Teil pro Billion, und ein solcher Tankzug wäre etwa zehn Kilometer lang. Diese hohe Wirksamkeit von Hormonen brachte vom Saal auf die Idee das Umfeld der vorgeburtlichen Entwicklung auf Hormone zu untersuchen.

Mäuse haben wie Katzen eine zweiteilige Gebärmutter in der die Nachkommen aufgereiht wie die Erbsen in der Schote liegen. Im Durchschnitt liegen in jedem Teil sechs Kinder, so hat je eine Schwester von sechs die Chance zwischen zwei Schwestern, und eine Schwester von sechs die Chance zwischen zwei Brüdern zu liegen. Ebenfalls ein Bruder von sechs kann zwischen zwei Brüdern, und einer von sechs zwischen zwei Schwestern liegen. Vom Saal stellte die Theorie auf, dass die Schwestern zwischen Brüdern sich zur "hässlichen Schwester" entwickeln würden, da sie in der embryonalen Entwicklung vom Testosteron der sie umgebenen Brüder beeinflusst werden. Er überprüfte seine Theorie durch Kaiserschnitt und Kennzeichnung des Nachwuchses - und er hatte recht!

Bauch.jpg (106897 Byte) Von zwölf Föten hat, bei gleichmäßiger Geschlechtsverteilung, je ein männlicher und ein weiblicher die Chance, zwischen zwei Brüdern zu liegen und je ein weiblicher und je ein männlicher können zwischen zwei Schwestern liegen.

Die benachbarten Brüder drückten der zwischen ihnen liegenden Schwester sogar derart ihren Testosteronstempel auf, daß die von ihr als erwachsenes Tier abgegebenen Duftstoffe (Pheromone) einfach nicht weiblich genug rochen. Da sie außerdem die Zahl der geborenen männlichen Nachkommen dieser Schwester erhöhten, kann man direkt sagen: "Brüder schaffen Neffen!"

Die Kollegen vom Saals tauften diese Phänomene spaßeshalber den "Bauchgenossen-Effekt", formell heißt diese inzwischen allgemein anerkannte Theorie : "Phänomen der intrauterinen Position", die inzwischen außer bei Mäusen, bei zahlreichen anderen Säugetieren und sogar beim Menschen nachgewiesen wurde. Ein Ergebnis das nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass die hormonelle Steuerung im Mutterleib zur Entstehung von zwei Geschlechtern bei allen Säugetieren, egal ob Maus, Katze, Wal oder Mensch, genau gleich ist.

Maine Coon vom Ihlwald

Überraschend wurden die Ergebnisse dieser Forschung jedoch, als die Auswirkungen der "Bauchgenossen" bei den männlichen Nachkommen untersucht wurden. Hier wurden die gängigen Vorstellungen auf den Kopf gestellt! Zunächst einmal waren die Ergebnisse wie erwartet: die Männchen, die sich zwischen Brüdern entwickelt hatten und damit den höchsten Testosteronkonzentrationen ausgesetzt waren, erwiesen sich anderen erwachsenen Männchen gegenüber in der Tat als die aggressivsten, während jene Männchen, die sich zwischen zwei Schwestern entwickelt hatten, die am wenigsten aggressiven waren. Doch dann kam die Überraschung: Die "Playboys" hatten sich ausnahmslos zwischen zwei Schwestern entwickelt! Hatte man bis dahin angenommen, sexuelle Aktivität sei ausschließlich das Produkt von Testosteron, so wies vom Saal jedoch nach, dass sowohl das "weibliche" Hormon Östrogen als auch das "männliche" Hormon Testosteron die männliche Entwicklung beeinflussen. Unter erhöhtem Einfluss von Östrogen entwickelt die Prostata nicht nur mehr Volumen, sondern wird auch empfindlicher für hormonelle Botschaften und die sexuelle Aktivität steigt. Doch es gab noch eine zweite Überraschung:

Logischerweise würde man annehmen, dass der Einfluss von Östrogen die Männchen den Jungen gegenüber eher fürsorglich macht, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Männchen, die sich zwischen Schwestern entwickelt hatten waren oft sogar zu Kindsmord fähig. Jene Männchen hingegen, die großen Mengen an Testosteron ausgesetzt waren, weil sie sich zwischen Brüdern entwickelt hatten, erwiesen sich als "brave Familienväter", die überraschenderweise beinahe ebenso bereitwillig die Jungen versorgten, wie deren Mütter. Sie duldeten allerdings kein anderes Männchen neben sich, s.o.

Interessanterweise geht aus anderen Studien hervor, daß auch die physische Konstitution der Mutter den Hormonspiegel im Mutterleib und damit auch den Nachwuchs beeinflussen kann. Trächtige Tiere, die man im letzten Teil ihrer Schwangerschaft permanentem Stress ausgesetzt hat, bekommen ausnahmslos "hässliche Schwestern". Mütterlicher Stress scheint die normalen intrauterinen Einflüsse zu übertreffen und zu einem Wurf aus lauter Raubeinen zu führen. Ein Zuviel an Östrogenen während der Trächtigkeit z.B. durch Hormonpräparate kann sogar zu Missbildungen an den Geschlechtsorganen führen.

Lady Elektra Bellamy von Stresemann, Maine Coon

Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, was denn "normal" ist, die "hübsche" Schwester oder die "hässliche", der "Playboy" oder der "brave Vater"? Für das Weiterbestehen einer Art ist alles normal und zu unterschiedlichen Zeiten nützlich. Eine Tierbevölkerung entwickelt sich in der freien Natur in Wellen. Zuerst sind die "hübschen" Schwestern am Zug. Sie gebären zahlreiche weibliche Nachkommen, die für ein noch größeres Ansteigen der Bevölkerung sorgen. Doch wenn eine Gegend zu dicht besiedelt ist, reagieren die "hübschen" Schwestern auf eine Zunahme von Harnduftstoffen und stellen die Nachkommenproduktion ein. Die "hässlichen" Schwestern sind auf diese Harnstoffe unempfindlich, deshalb kommen sie jetzt zum Zuge. Ihre Würfe sind zwar kleiner, aber sie werden aggressiver verteidigt, und da sie aus mehr männlichen Nachkommen bestehen, sinkt die Bevölkerungszahl langsam wieder.

Normal ist also die Vielfalt! Die Evolution hat also mit Hilfe der Hormone dafür gesorgt, dass selbst bei weitgehender genetischer Gleichheit sich die einzelnen Tiere unterschiedlich entwickeln können und dadurch sich unterschiedlicher Umwelt anpassen können. Deshalb kann eine Tierbevölkerung sich auch wieder erholen und der Umwelt anpassen, wenn sie auf wenige Exemplare zusammengeschrumpft war und die ersten Generationen sich genetisch sehr gleichen, da sie eng verwandt sind.

Als ich von diesen Forschungsergebnissen das erste Mal hörte, prüfte ich natürlich sofort nach, ob auch bei meinen Tieren diese Phänomene zu beobachten sind. Tatsächlich ist die "Chefkätzin" in meinem Zwinger aus einem Wurf mit ausschließlich Brüdern. Sie sorgt notfalls mit der Pfote für Ordnung. Vom Äußeren könnte man sie für einen Kater halten, so kräftig ist ihr Nacken und so dick sind ihre Backen. Mein Kater ist ein "braver Familienvater" der begeistert mit seinen Jungen spielt. Auch er hat nur männliche Geschwister. Bei beiden Tieren stimmt also die Konstellation der "Bauchgenossen". Bei den anderen Tieren weiß ich über die Geschwister nichts, da sie Stammbäume von einem Verein haben, der leider über die Geschwister nichts verzeichnet. Ich werde jedoch auf jeden Fall bei meinen nächsten Würfen die Lage der "Bauchgenossen" notieren. Da Katzen in der Regel abwechselnd aus beiden Gebärmutterzweigen gebären ist dies bei normalen Geburten möglich. Kitten Nr. 1,3 5 usw. waren wahrscheinlich nacheinander aufgereiht in einem Gebärmutterhorn, ebenso Kitten Nr. 2,4,6 usw. Da Katzen nicht so oft mehr als sechs Kitten zur Welt bringen, hat natürlich in jedem Gebärmutterhorn nur ein Kitten die Chance zwischen zwei Brüdern oder zwei Schwestern zu liegen. Ganz sicher ist man sich natürlich nur bei einem Kaiserschnitt.

Maine Coon of Greystone Juri's Bagai, Neva Masquarade

Für unsere Katzenzucht können wir aus diesen Forschungen lernen, dass die gewünschten Charakter-Eigenschaften der Tiere sich durch Selektion nur bedingt beeinflussen lassen. Denn durch die "Bauchgenossen" werden auch bei den friedlichsten Linien immer wieder aggressivere Tiere entstehen, wenn sie im Mutterleib zwischen zwei Brüdern lagen. Beeinflussbar durch Selektion ist nur die Bevorzugung von Linien, in denen die Tiere sowieso schon einen etwas geringeren Testosteronspiegel haben.

Wir können auch versuchen durch die Gestaltung der Umwelt, durch intensive Beschäftigung mit den Kitten in den ersten Lebenswochen, eine menschenfreundliche Haltung bei unserer Nachzucht zu erzeugen.

Eine zu hohe Katzenbevölkerung in einem Zwinger fördert ebenfalls die Aggression unter Artgenossen, besonders gegen Katzen des gleichen Geschlechts. Eine Verhaltensweise, die in der Natur nützlich ist, um für jedes Tier ein genügend großes Jagdrevier zu sichern. Diese Verhaltensweise nimmt mit höherem Lebensalter auch bei unseren im Haus gehaltenen Tieren zu, obwohl ausreichend Futter für alle da ist.

Die Chance einen "Playboy" zu erhalten, der sich mit einem anderen Kater versteht, ist also bei einem Tier, dass zwei Schwestern als "Bauchgenossen" neben sich hatte, größer. Wer einen "braven Familienvater" als Alleinherrscher im Haus haben möchte, hat bei einem Kater, der zwischen zwei Brüdern lag, größere Chancen. Besonders liebevolle Kätzinnen findet man häufiger unter denen, die sich zwischen zwei Schwestern entwickelten. Kätzinnen, die wehrhafter ihren meist männlichen Nachwuchs verteidigen und auch sonst aggressiver sind, verbrachten die Embryonalphase zwischen zwei Brüdern. Durch andere Einflüsse, wie z.B. Stress beim Muttertier während der Trächtigkeit, gibt es auch immer wieder Nachkommen, die sich anders, als nach diesen Regeln entwickeln.