Farbe und Temperament

von Raymonde Harland

erschienen in "katzen extra" 9/99

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"Rote und schildpatt Kätzinnen haben einen ganz eigenen Charakter und sind öfter unfruchtbar." Diesen Satz hörte ich oft, als ich plante, eine rote Kätzin in die Zucht zu nehmen. Alles nur wieder einmal ein Ammenmärchen - vermutete ich. Oder doch nicht?

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Einen Teil der obigen Behauptung mußte ich bald aus eigener Erfahrung bestätigen: Meine schildpatt/weiß Kätzin entwickelte einen ganz anderen Charakter, als die genetisch schwarzen. Wie ein kleiner Derwisch sauste sie durchs Haus, schlief weniger und hatte nur Unsinn im Sinn. Stürmische Schmuseanfälle wechselten mit Zeiten ab, in denen sie sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht war. Den Chefposten hatte sie schnell erobert und mich hatte sie bald dressiert, auf alle ihne Launen einzugehen. Ein typisches Schildpatt-Temperament! 

Gespannt begann ich nachzuforschen. Was kann der Charakter mit der Farbe zu tun haben? Konnte es nicht ein Zufall sein - wurden vielleicht die Kätzinnen  mit dem ungewöhnlichen Temperament besonders beachtet und all die roten und schildpatt Kätzinnen mit unauffälligem Charakter kamen in der Wahrnehmung der Züchter zu kurz? 

Eumelanin und Phäomelanin

Der einzige biologische Unterschied zwischen genetische schwarzen und genetisch roten bzw. schildpatt Kätzinnen liegt in der chemischen Zusammensetzung des Farbstoffes, der Haut und Haare färbt. Die schwarze Farbe wird hervorgerufen durch Eumelanin auch einfach Melanin genannt. Es ist der gleiche Farbstoff, der auch bei anderen Säugetieren und natürlich auch beim Menschen wirkt. Der rote Farbstoff heißt Phäomelanin und unterscheidet sich in der chemischen Zusammensetzung vom Melanin, obwohl er in den selben Körperzellen gebildet wird. Entwicklungsgeschichtlich ist der schwarze Farbstoff Melanin ursprünglicher, die Bildung von Phäomelanin ist eine Mutation. Gene, die für die Umschaltung der Produktion von schwarzen auf roten Farbstoff zuständig sind, liegen bei der Katze auf dem X-Chromosom, werden also geschlechtsgebunden vererbt.

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Melanin hat im Körper nicht nur die Aufgabe der Pigmentierung von Haut und Haaren, um vor den schädlichen UV-Strahlen zu schützen. Melanin steht am Ende eines langen biochemischen Reaktionsweges, in dessen Verlauf Substanzen entstehen, die bei der Nervenleitung mitwirken. Es wird in besonderen Zellen gebildet, den Melanozyten. Diese Zellen entstehen in der Neuralleiste, einem kleinen Gewebeabschnitt des Embryos, dessen Hauptaufgabe die Bildung des Nervenstystems ist. 

Die Melanozyten wandern beim Katzenembryo erst ca. 3 Wochen nach der Deckung in die Iris, die Netzhaut, das Innenohr, die Mundschleimhaut und die Häute, die Gehirn und Rückenmark schützen. Manche Teile von Gehirn, Ohr und Auge sind tiefschwarz, weil sie so viel Melanin enthalten. 

Was bewirkt Melanin?

Am leichtesten ist dies zu beurteilen, wenn man Albinos, denen Melanin fehlt, betrachtet. Je nachdem, welche Form von Albinismus oder Teilalbinismus vorliegt, ist das Seh- und Hörvermögen gestört. Das liegt daran, daß Melanin in einigen Teilen des Organismus, die nie das Sonnenlicht sehen - Ohr, Gehirn und Nervensystem- recht überraschende Aufgaben hat. Melanin trägt zur Organisation der Gehirnstruktur bei. Während der Entwicklung des Embryos dirigieren dunkle Zellen die Nerven an die richtigen Stellen. Eine der wichtigsten Aufgaben solcher Zellen ist die Organisation der Fasern, die die Impulse jedes Auges in die gegenüberliegende Gehirnhälfte leiten und so die räumliche Wahrnehmung ermöglichen. Bei Albinos fehlen diese steuernden Zellen, so daß das Sehsystem nicht richtig verdrahtet ist; deshalb sehen manche Albinos und Teilalbinos sehr schlecht. Als man die Vererbung der Taubheit erforschte, bemerkte man zum erstenmal, daß Melanin auch im Ohr eine Rolle spielt. Vielleicht schützt Melanin das Ohr durch seine Fähigkeit Energie aufzunehmen, die als Schallwelle von außen übertragen wird. Wie das Sonnenlicht, das auf die Haut fällt, so läßt auch übermäßiger Lärm im Ohr freie Radikale entstehen, die vom Melanin "eingesammelt" werden. Wichtiger ist aber die Aufgabe des Melanins bei der embryonalen Entwicklung des Innenohrs, das sich ohne Melanin nur unvollständig bildet und deshalb taub oder schwerhörig wird.

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Melanin, daß sich in bestimmten Regionen des Gehirns ablagert, heißt Neuromelanin. Neuromelanin kommt in höher entwickelten Gehirnen öfter vor. Es ist ein rätselhaftes Zeug, daß nicht nur auf die Sinnesorgane wirkt, sondern auch vermutlich bei der Entwicklung von Intelligenz mitwirkt. 

Melatonin

Melatonin ist ein Hormon, daß die Melaninproduktion beeinflußt und die innere Uhr, sowohl was die Tageszeit als auch was die Jahreszeit betrifft.  Melatonin wird in der Zirbeldrüse (auch als drittes Auge bezeichnet) an der Unterseite des Gehirns gebildet. Melatonin beeinflußt den Schlafrythmus, die Körperthemperatur und vieles andere. Dort wo es gebildet wird, erhält das Gehirn auch die Nervensignale unmittelbar von den Augen. Deshalb läßt sich die innere Uhr durch den Wechsel von Hell und Dunkel umstellen. Bei Katzen bewirkt Melatonin, daß sie im Frühjahr, wenn die Tage länger werden, öfter rollig sind, als in der dunkleren Jahreszeit. Hier könnte ein Zusammenhang von Melanin und Fruchtbarkeit liegen. Übrigens wird auch der Fellwechsel von Melatonin gesteuert. Beim Menschen hat eine gestörte Melatoninproduktion oft starke Stimmungsschwankungen zur Folge. Es könnte also auch mit der Launenhaftigkeit mancher Katzen zu tun haben. 

Phäomelanin ist der Farbstoff, der Haar rot färbt. Ein wesentlicher Unterschied zum Melanin ist, daß Phäomelanin nicht in der Lage ist, freie Radikale in den Zellen "einzufangen". Dies ist u.a. eine der Ursachen, warum rothaarige Menschen leichter Hautkrebs bekommen, als dunkel pigmentierte. Andere Unterschiede sind noch nicht erforscht. Es ist deshalb nur eine Theorie, daß Phäomelanin bei Katzen das Temperament und die Fruchtbarkeit beeinflußt. Melanin beeinflußt aber zweifellos Vorgänge im Gehirn und die jahreszeitlich erhöhte Fruchtbarkeit. Es könnte also durchaus eine biologische Erklärung dafür geben, warum Katzen mit dem Farbstoff Phäomelanin, also vor allem rote und schildpatt Kätzinnen, so eigenwillig und oft auch besonders klug sind und warum ihre Fruchtbarkeit niedriger liegt. Vielleicht wird diese interessante Fragestellung einmal wissenschaftliche Forschung nach sich ziehen - bis es soweit ist, daß wir genaueres Wissen darüber haben, sind wir Zücher auf unsere Erfahrungswerte angewiesen.